Dienstag, 26. Juli 2016

Der Weg ist das Ziel - oder?

„Sich auf den Weg machen“, so lautet der Name unseres Projekt-Seminars. Auf den Weg haben wir uns dann auch gemacht, aber bis es dazu kam, dauerte es noch ein Weilchen. Möchte man in Bayern Abitur machen, besteht die Pflicht ein Projekt-Seminar zu belegen, das heißt, dass die zukünftigen Abiturienten, neben der Studien- und Berufsorientierung, ein Projekt jeglicher Art organisieren und bestenfalls durchführen müssen. In unserem Fall war dies eine Pilgerreise. Wir? Das sind 14 Jugendliche der 11. Jahrgangsstufe des Staatlichen Landschulheims Marquartstein plus unserem Lehrer Herr Müller, seiner Liebsten, Frau Lermer und – man verneige sich zutiefst vor ihr – Tamara, unserer Begleitperson auf Rädern, die uns den Rücken, so gut es ging, freihielt, indem sie beispielsweise Isomatten und Schlafsäcke zu unseren nächsten Unterkünften fuhr und außerdem weder Kosten, noch Mühen scheute, uns in Notsituationen zu Hilfe zu eilen.
Lange haben wir überlegt und diskutiert, wohin es denn gehen soll, oder vielmehr wo genau denn unser Weg verlaufen soll, denn bekanntlich ist ja der Weg das Ziel!      
Als endlich feststand, dass Lindau unser Endpunkt sei, ging die Planung erst richtig los: In kleinen Gruppen kümmerten wir uns um die Etappeneinteilung, Tagesgestaltung, leibliches Wohl und Unterkünfte der einzelnen Tage. Sogar zum „Probepilgern“ von Marquartstein nach Übersee (etwa 13 km) haben wir uns getroffen, um eine ungefähre Vorstellung davon zu erhalten, welche Länge als Tagesetappe sinnvoll sei. Wir arbeiteten fleißig vor uns hin, auch Flyer, mit denen wir uns zum Vorstellen unseres Projektes und Spendensammeln aufmachten,  sind in diesem Zeitraum entstanden. Nun können wir mit Stolz von uns behaupten, dass wir unser Projekt ganz alleine auf die Beine gestellt haben!

164 km, von Rottenbuch nach Lindau, lagen vor uns. Kaum war alles geplant und gebucht, ging es auch schon los. Pünktlich um 06:54 nahm der Großteil des Kurses den Zug ab Übersee, der immer mehr unserer Pilger einsammelte, bis wir in München schließlich komplett waren. Noch eine kleine Strecke mit Bus und Bahn – schon konnte es in Rottenbuch, unserem Ausgangsort, mit der eigentlichen Fortbewegungsart losgehen.
Vorbei an Dörfern und Wiesen, durch Wälder oder auf Schotterwegen, von Ort zu Ort. Einige von uns waren ganz unkonventionell mit ihren selbstgeschnitzten Haselnussstecken unterwegs, welche die traditionellen Pilgerstöcke sind. So sah unser Weg im Großen und Ganzen aus. Immer mal wieder kamen wir vorbei an freundlichen und aufgeschlossenen  Menschen, die sich für unser Projekt begeisterten und uns viel Glück auf unserem Weg wünschten.
Doch so schön die Landschaft des Allgäus auch ist und so sehr sie einem dabei helfen kann, vom Stress des Alltags loszukommen – gekoppelt an Temperaturen von 30 Grad im Schatten brachte sie uns schon einmal an den Rand unserer Belastbarkeit. Da war es toll, hin und wieder an Kapellen oder Kirchen vorbeizukommen, denn neben einem Stempel für unsere Pilgerausweise, boten ihre kühlen Mauern auch körperliche sowie geistige Erholung. An unserem heißesten Tag erlebten wir mehr, oder weniger ein Wunder: mitten im Wald wartete der Speckbacher Wasserfall mit einer erfrischenden Abkühlung und traumhafter Kulisse für Fotos auf uns.
Unsere Unterkünfte waren sehr unterschiedlich: Von Gasthöfen mit Massagestühlen, bis übernachten auf Isomatten im Pfarrheim oder Kolpinghaus, war alles dabei. Bei so viel Liegen auf harten Böden kam uns die Turnhalle der Waldorfschule Kempten ganz recht; bei der wir das Gefühl hatten, wie auf Wolken gebettet zu schlafen, nicht auf Turnmatten.
Auf der Reise lernten wir kennen, mit nur dem nötigsten Gepäck, mehrere Tage auszukommen, was schon beim Packen des Rucksacks eine kleine Herausforderung war. Dies hatte zur Folge, dass man sich über Kleinigkeiten, wie zum Beispiel einen kühlen Spezi, beim abendlichen Zusammensitzen in der Wirtschaft, freute.
Aber wie war das jetzt, mit der alten Floskel, die uns die Verwandten von Daheim noch mit auf den Weg gegeben hatten: „Aber Kinder, der Weg ist doch das Ziel...!“ ?
Wir haben gemeinsam gelacht und geweint und nach einer gewissen Zeit auch jegliches Schamgefühl gegenüber anderen verloren und uns auch untereinander besser kennen gelernt: Wenn man sich umarmt, nachdem man 30km in der prallen Sonne gewandert und einmal komplett in Schweiß gebadet ist und dann der gegenüber trotzdem nicht vor Gestank umkippt, weiß man, das muss Liebe sein. Aus unserem ehemaligen Kurs wurde, im Laufe der Reise, eine Gruppe von Freunden, die gemeinsam ein Ziel erreichen wollen: Sich selbst finden, den Alltag zu entschleunigen und letztendlich, den Bodensee.
Der Zusammenhalt in der Gruppe ist enorm gewachsen und sobald es einem von uns schlecht ging, waren die anderen sofort zur Stelle, um zu helfen und zu motivieren. Durch gemeinsames Singen, oder Spiele wie „Wer bin ich?“ lenkten wir uns gegenseitig ab, wenn es mal nicht voranzugehen schien, der Weg unendlich vorkam und sich der Rucksack wie ein Felsbrocken auf den Schultern anfühlte. Insbesondere mit Blasen an den Füßen hatten einige von uns schon nach dem ersten Tag zu kämpfen – Gefahr auf Knochenhautentzündung hieß es sogar einmal und auf Anweisung des Arztes durfte eine der Pilgerinnen für knapp drei Tage leider nicht mit uns gehen. Auch mit einem Magen-Darm-Infekt war ein Teil unserer Gruppe geplagt, aber was am wichtigsten war: An der letzten Etappe wanderten wir wieder vollständig und als wir das Lindau-Schild vor uns sahen, waren plötzlich alle Blasen, Schulterschmerzen oder grummelnde Mägen vergessen: Wir liefen alle gemeinsam und überglücklich zum Ziel.
Und plötzlich fiel uns auf: Nicht Lindau war das Ziel. Das Ziel, das war das Zusammenhalten. Etwas gemeinsam zu schaffen, auch wenn die Füße bluten und die Nacht viel zu kurz war. Sich auch Fehler bei der Planung eingestehen, aber sich dann eben gemeinsam etwas Neues zu überlegen. Für andere zurückzustecken und auch selbst zuzugeben, dass man Hilfe braucht. Sich in den härtesten Momenten zu wünschen, „Ach, wäre ich doch daheim...“ und dann ein Tränchen zu verdrücken, als uns beim Abschlussgottesdienst in Lindau klar wurde, dass unsere gemeinsamen Nächte mit viel zu wenig Schlaf, Abende mit Pizza und Wein und die Tage, die mit sehr viel Gehen gefüllt waren, jetzt erst einmal vorbei sind.
In diesem Moment denkt man an die Omi von Zuhause zurück und sagt, Ja, der Weg ist das Ziel Oma, aber eine deftige Portion Käsespätzle und ein mit Stempeln gefüllter Pilgerausweis in Lindau sind auch nicht zu unterschätzen....


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